16 März 2020

Der erste Tag vom neuen Alltag

Lange war es wieder mal still hier. Jetzt habe ich aber gerade das akute Bedürfnis, eine Art Tagebuch zu schreiben. Einmal als Erinnerung - "weißt du noch, damals, als wegen dem Virus alles geschlossen war?" - und zum anderen, um gegen das Gefühl der Isolation anzuschreiben, das mich - eingefleischter Stubenhocker, Zu-Hause-Nerd, jeden-Tag-dieselbe-Hose-Träger - fest im Griff zu haben scheint.

Seit heute sind die Schulen also geschlossen. War eigentlich schon die ganze letzte Woche klar, und entsprechend haben wir uns schon lange vorbereitet. Unser Klassenzimmer im frisch renovierten, eigentlich als Spiele- und Partyraum gedachten Keller, ist voll ausgestattet mit Tisch und Stühlen, einem Schrank mit einem Fach für jedes der fünf Kinder, einer uralten Tafel (hauptsächlich für die Atmosphäre) und vor allem mit WLAN, zwei Computern, Beamer, zwei+ iPads mit jeder Menge Lern-Apps und Materialien drauf. Gar nicht so wenig Arbeit, bis das alles ein- und hergerichtet war.
Und nach dem ersten Schultag bin ich ganz schön fertig. Die Kinder haben gut mitgemacht, aber jedes der fünf hat halt seine eigenen Bedürfnisse, ganz selbständig klappt nicht immer alles, und nebenbei sollte ich ja auch noch meine eigene Arbeit erledigt kriegen. Aber dafür hat's eigentlich recht gut geklappt.

Wenn man rausgeht, habe ich das Gefühl, über allem liegt eine Art erwartungsvolles Schweigen. Wahrscheinlich ist das nur meine Wahrnehmung, bei uns im Viertel ist ja nie viel los, also ist wohl gar nichts anders. Die Leute schwanken zwischen "Supermarkt leerkaufen" und "ist doch alles übertrieben". Übertrieben ist gar nix, wir sind eher spät dran mit Maßnahmen, finde ich. Ab heute sind neben Schulen alle anderen öffentlichen Einrichtungen geschlossen, ab Mittwoch alle nicht für den täglichen Bedarf nötigen Geschäfte. Und eben kam die Meldung, dass die EU die Außengrenzen dicht macht. Klingt dramatisch. Ist es wohl auch.
Bei Leo in der Arbeit hat sich ein erkrankter Kollege trotz Fieber noch in die Arbeit geschleppt. Jetzt ist es bestätigt, dass er Corona hat. Danke auch.

Immerhin hat mein Vater mithilfe von Logarithmus-Papier und den offiziell verfügbaren Infektionszahlen ausgerechnet, dass die Beschleunigung des Wachstums bereits nachlässt. Noch nicht genug, sagt er, aber immerhin geht der Trend in die richtige Richtung.
Also tun wir momentan jetzt einfach unser Bestes, um die Kurve abzuflachen, versuchen, den Alltag aufrechtzuerhalten, und hoffen, dass irgendwann die viel gerühmte Ruhe und zusätzliche Freizeit einsetzt, von der alle im Internet reden...

16 Februar 2017

Abenteuer Demokratie

Wie auf diesem (schon wieder viel zu lange brachliegenden) Blog schon öfters beschrieben, leben wir hier in unserem Stadt-Dorf in einer kleinen Oase der Glückseligkeit in Sachen Offenheit und Willkommenskultur. Das ist auch nach wie vor der Fall. Aber natürlich gibt es auch hier verschiedene Meinungen, und eben auch Leute, die die Sache mit den Flüchtlingen ... kritisch sehen. Einer dieser Leute ist offenbar aktiv geworden und möchte hier nun eine Ortsgruppe einer viel zu bekannten blaubraunen Partei gründen. Also organisierte er einen Saal und ein Parteimitglied mit osteuropäisch klingendem Namen, das einen Vortrag über die Gefahren des Islam für unsere freie Gesellschaft halten sollte. So weit, so demokratisch. Ebenso demokratisch wollten aber viele Bürger auch zeigen, dass das nicht die vorherrschende Meinung in unserer Stadt ist, und haben innerhalb weniger Tage eine Gegenveranstaltung auf die Beine gestellt. Leider ohne Plakate, so dass man nur durch Mundpropaganda davon erfuhr.

Obwohl ich ja sonst nicht wirklich politisch aktiv bin, fand ich diese Aktion unterstützenswert genug, um meinen kranken Mann samt Kindern allein daheim zu lassen und hinzugehen. Es folgt ein kleiner Erlebnisbericht.

Kurz vor 18 Uhr, etwa eine Stunde nach Veranstaltungsbeginn. Als ich ankomme, schallt mir als Erstes ein beherzt-betrunkenes „Nazis raus“ aus dem Inneren eines Polizeiwagens entgegen. Hier geht’s ja zu wie im Hamburger Schanzenviertel oder ähnlich wild-aufsässigen Zentren des revolutionären Aktivismus. Ok, nicht ganz. Der Rest der Veranstaltung wirkt eher harmlos. Ein aus dem benachbarten Jugendzentrum entliehener Lautsprecher spielt dezent-moderne Musik, ein paar Tische mit Broschüren und Postkarten stehen im Kreis, Kinder wuseln über den Platz und an einer Stellwand kann man auf einer Weltkarte markieren, wo man herkommt. Ein Mann hat sich eine Europafahne umgehängt, ein anderer eines der kostenlos verteilten Schildern mit „Garching ist bunt“-Aufdruck auf einen Stock gesteckt, den er über den Kopf hält. Mehr Demo geht quasi gar nicht.

Ich bin erstaunt, dass trotz minimaler Werbung doch so viele Leute – schätzungsweise 80 oder 100? –gekommen sind, bis mir erzählt wird, dass zu Anfang der Veranstaltung die fünffache Anzahl an Teilnehmern da waren. Das kann ich nun wieder nicht so recht glauben, aber vielleicht habe ich mich auch verschätzt, Leute zählen ist ja nicht so leicht.

Immerhin zwei bekannte Gesichter sehe ich, eine befreundete Mutter und mein ebenfalls (viel mehr als ich) in der Flüchtlingshilfe aktiver Vater, mit dem ich eine Weile über Politik und Fahrräder fachsimple, bis er zu einem anderen Termin muss. Mieser Netzwerker, der ich bin, stelle ich mich doch zu dem einen oder anderen Grüppchen dazu und lerne ein paar Lokalpolitiker, Flüchtlingshelfer aus anderen Bereichen und einfach-nur-so-Engagierte kennen. Der Bürgermeister drückt mir zum Abschied die Hand, aus keinem besonderen Grund. Wahrscheinlich nur, weil ich gerade neben einer der Veranstalterinnen stehe, als er geht.

Aus irgendeinem Grund habe ich mich nie besonders mit dem Ort, in dem ich aufgewachsen bin, identifiziert. War wahrscheinlich so ein Teenager-Ding: Es gab zwei altbacken-langweilige Säuferkneipen, kein Café, keinerlei Einkaufsmöglichkeiten, die über Supermarkt und Schreibwarenladen hinausgingen, kein Kino und außerhalb der Stoßzeiten nur alle 40 Minuten einen Bus in die Stadt.

Aber in letzter Zeit macht mich meine Kleinstadt unerwartet stolz. Scheiß auf das fehlende Einkaufszentrum, wenn ich in einem Ort leben kann, in dem die Stimme der Vernunft und Menschlichkeit noch etwas zu sagen zu haben scheint. Vielleicht sehe ich das aber auch zu romantisch. Eine Teilnehmerin der Veranstaltung erzählt mir, dass sie den Islam ja schon irgendwie gefährlich findet, und ihr nicht so ganz klar sei, ob der Titel des Vortrags nicht eigentlich doch seine Berechtigung hätte. Gemeinsam mit dem Europaflaggen-Mann kommen wir zu dem Schluss, dass nicht der Islam oder irgendeine Religion, sondern der Fundamentalismus das Problem sei und fühlen uns nun doch wieder im Recht.

Aber was ist denn jetzt eigentlich mit dem Vortrag, dem Anlass der ganzen Gegenveranstaltung? Bis jetzt gab es keinerlei Berührungspunkte. Aber müsste man nicht hingehen und sich das mal ansehen? Nur um informiert zu sein? Und sich vielleicht ein paar Gesichter zu merken, von Leuten, bei denen man in Zukunft nicht mehr zwingend einkaufen will? Die Frau mit der Weltkarte informiert mich, dass einige Gegendemo-Teilnehmer schon rüber ins Wirtshaus gegangen sind und genau das tun. Ob ich sollte...?

Klar sollte ich. Ich kann ja schlecht gegen etwas demonstrieren, das ich mir nicht wenigstens teilweise angesehen habe, und hier habe ich die Gelegenheiten, an Informationen aus erster Hand zu kommen.

Ich fühle mich sehr mutig, wie ich mit meinem „Garching ist bunt“-Schild zum Wirtshaus rübermarschiere. Auch hier stehen zwei Polizisten, allerdings haben sie keine Betrunkenen im Wagen. Letzter wären auch blöd, ihren Platz im Warmen jetzt schon zu verlassen. Ich mustere die Raucher vor der Türe und versuche sie in normale Gäste und Vortragsbesucher einzuteilen. Nicht leicht bis unmöglich, denke ich, bis ich durch die Glastür einen Blick in den Saal werfen kann. Alte weiße Männer. (Ernsthaft? Wovor glaubt ihr denn, Angst haben zu müssen?) Und gar nicht wenige, der Raum ist mehr als voll besetzt. Schätzungsweise ebenfalls 80 bis 100 Personen, aber auch hier bin ich mir keineswegs sicher. Mal sehen, was morgen in der Zeitung steht. Allerdings kann ich den Saal tatsächlich nicht betreten. Jetzt, wo der Vortrag läuft, ist die äußere Türe versperrt und vor der inneren stehen so viele Leute, dass ich nicht durchkomme. Mich mit meinem Schild durch eine dichtgedrängte Gruppe von Fans zu quetschen, ist mir dann doch irgendwie zu gruselig. Immerhin wirkt die Atmosphäre den Gesichtern der Zuhörer nach zu urteilen ähnlich harmlos wie die der Gegenveranstaltung. Und schöne bunte Schilder und Flaggen hat hier keiner. Alles wirkt alt und grau und unbegeisternd. Irgendwie nicht so, als hätte das Ganze hier am Ort viel Zukunft. Naja, wir werden sehen.

Ich klemme mir mein Schild auf den Gepäckträger und radle nach Hause. Auch wenn’s hier nach wie vor nur eine altbacken-spießige Kneipe und nur eine einzige (allerdings sehr) akzeptable Frühstücks-Location gibt – irgendwie will ich aus meinem Kaff nicht mehr weg.

05 Juli 2016

Not about me

Der Ramadan liegt in den letzten Zügen. Oder vielmehr die Fastenden, habe ich das Gefühl. Meine Kids sind müde, erschöpft und seltsam aufgekratzt. Der Lärmpegel in der Klasse ist deutlich höher, die Konzentration lässt zu wünschen übrig. Manche haben das Fasten tatsächlich abgebrochen – geht Assimilierung so schnell? Oder sind sie wie ich zu dem Schluss gekommen, dass sie noch als Reisende zählen und deshalb nicht am Fasten teilnehmen müssen? Die anderen halten tapfer durch, schlafen nachts kaum, weil sie ja nicht nur essen müssen, sondern dann auch noch die Küche in der Unterkunft aufräumen und putzen, abends ebenso wie morgens vor der Schule. Da bleibt nicht viel Energie für Perfekt und Präpositionen übrig.

Nur heute noch, denke ich mir, als ich am Montag vor der Klassenzimmertür stehe. Und überlege, was ich mit der Tüte voller Süßigkeiten mache, die ich mitgebracht habe. Am Wochenende war Festumzug hier im Ort, und meine Kinder haben den besten Platz zum Süßkram einsammeln erwischt. Natürlich haben sie sich alles gegriffen, was sie kriegen konnten, auch Sachen, die sie gar nicht mögen. (Ja, es gibt Süßigkeiten, die meine Kinder nicht mögen.) Die und ein paar wenige andere haben sie dann aussortiert, um sie an die Flüchtlinge weiterzugeben. Echte Großzügigkeit wäre es natürlich, auch von den Sachen was abzugeben, die man mag. Aber irgendwie will ich sie dazu nicht zwingen, denn was bringt schon erzwungene Großzügigkeit, außer das Gefühl, dass man Teilen nicht mag? Zumal ich sie ja schlecht in die Schule mitnehmen kann, damit sie den Lohn für ihr Teilen – die Freude der anderen Kinder – miterleben können. Das ist glaube ich für den Lerneffekt immens wichtig.

Für mich hingegen darf es eigentlich nicht wichtig sein. Klar, das Helfen ist befriedigend, ich fühle mich besser, wenn ich am Montag vom Unterricht heimkomme, ich schreibe Blogeinträge, damit alle wissen, was für ein toller Mensch ich doch bin. ;) Aber in der Schule geht es nur um die Kinder. Ich habe mich mittlerweile an den Gedanken gewöhnt, dass ich ihnen nicht annähernd so viel helfen kann, wie ich es eigentlich für wichtig und nötig hielte – sonst hätte ich mittlerweile mindestens 8 – 12 von ihnen adoptiert. Und dass ich selten den ‚Lohn‘ meiner Arbeit zu sehen bekomme. Ich bin eben nur einmal die Woche da, das reicht für etwas Grammatik, aber nicht, um einen substanziellen Unterschied in jemandes Leben zu machen. Ich gehe hin, gebe zwei Stunden lang, was ich zu geben habe, und hoffe einfach, dass es für die Kinder alles ein kleines bisschen besser macht. Und muss mit der Tatsache leben, dass ich viele schon im nächsten Schuljahr nicht mehr wiedersehen werde. Einige sind in andere Unterkünfte verlegt worden, andere schließen die Schule ab.

Etwas kriege ich aber doch zurück. Seit ich meine Schüler habe, hat sich mein eigenes Verhalten verändert. Wenn ich auf der Straße jemandem begegne, der ‚anders‘ aussieht – dunkelhäutig, fremdländisch, mit Kopftuch … - schaue ich ihn/sie direkt an und lächle freundlich. Früher habe ich das nicht getan. Auch wenn ich mich nicht wirklich für rassistisch halte, schwang doch bisher immer die Angst mit, durch zu offen zur Schau getragene Freundlichkeit zu irgendwas einzuladen. Möglicherweise eine Altlast aus meiner Schulzeit, oder aber einfach Zeichen meiner nach jahrelanger harter Arbeit immer noch nicht ganz überwundenen Schüchternheit … und der grundlegenden Furcht vor dem Fremden, die jeder Mensch mehr oder weniger stark in sich trägt. Die ist jetzt völlig verpufft. Das hat nur ein paar Wochen gedauert. Ich wünschte, viel mehr Menschen hätten die Gelegenheit zu so einer Erfahrung ...

Also habe ich trotz aller Flüchtigkeit meiner Bemühungen doch sehr viel gewonnen. In mittlerweile guter alter Tradition muss ich hierzu wieder mal ein Literaturzitat bemühen, diesmal sogar eines meiner liebsten überhaupt (hätte gerne, dass das mal auf meinem Grabstein steht): „Ich habe die Farbe des Weizens gewonnen.“ Dieser Satz (zugegebenermaßen ohne Kontext nicht zu verstehen, also ruhig das ganze verlinkte Kapitel lesen) drückt eigentlich alles aus, was man sich vom Leben erwarten kann.

Und so verstecke ich die Süßigkeitentüte hinter meinem Rücken, als ich das Klassenzimmer betrete, und drücke sie in der Pause der Klassenlehrerin in die Hand, damit sie sie den Kindern nach Ende des Ramadans weitergibt. Ich werde die Freude der Kinder nicht zu sehen bekommen. Aber ich bin sicher, dass sie sich freuen werden. Das reicht.

09 Juni 2016

Amatus sum. Amatus es. Amatus est.

Irgendwie sind meine Überschriften in letzter Zeit häufig fremdsprachig. Aber keine Angst, ich fange jetzt nicht an, auf Latein zu schreiben. Ich zitiere nur einen Film, der mir in der letzten Unterrichtsstunde in den Sinn kam, als wir Übungen zum Futur I machten.

Eigentlich war ich überzeugt, im Film wäre das Verb auch im Futur – I und II – konjugiert worden, so dass die Bedeutung „Ich liebe, ich werde lieben, ich werde geliebt haben“ dabei rauskommt (und letzteres traurigerweise impliziert, dass die Liebe irgendwann endet). Aber diese falsche Erinnerung ist leicht zu entschuldigen, denn der Film, Das Reich der Sonne, ist so alt, das der Hauptdarsteller Christian Bale damals 13 Jahre alt war. Ja, ich hab den im Kino gesehen. 1987. Themawechsel!

In Wirklichkeit sagt Jim, der in einem japanischen Kriegsgefangenenlager internierte Junge, im Film also „Ich werde geliebt, du wirst geliebt, er wird geliebt.“ Sein britischer Mentor im Lager bringt ihm ausgerechnet Latein bei. Ganz sicher das Wichtigste, was ein Kind in so einer Situation lernen kann.

Genauso komme ich mir auch oft vor, wenn ich mit meinen Schülern, die z.T. gerade mal drei, vier Monate hier sind, scheinbar sinnlose Vokabeln übe oder mich mit ihnen an grammatikalischen Details festbeiße, für die jeder vernünftige Mensch die deutsche Sprache zum Teufel wünschen muss, und die zur Verständigung keineswegs unabdingbar sind.

Aber genau wie der Unterricht im Film ist der reale Unterricht etwas, auf das die Schüler sich konzentrieren und woran sie sich festhalten können. Wenn die aus meiner subjektiven Sicht völlig regelfreie Partizipbildung im Deutschen nervig genug ist, um kurzzeitig von Einsamkeit, Heimweh und Traumata abzulenken, dann ist sie vielleicht gar nicht mal so verfluchenswert.

Also nehmen wir zehn Beispielsätze und setzen das Verb ins Futur. „Ich werde Gitarre spielen lernen.“ „Ich werde auf den Berg steigen.“ „Ich werde bei Freunden übernachten.“ Dann sollen die Schüler beschreiben, was sie in den Sommerferien machen werden, und was in fünf Jahren. Viele sind ob der Langfristigkeit der Frage ratlos. (War ich in Bewerbungsgesprächen auch immer.) Manche schreiben Berufswünsche auf, andere Reiseziele. Einer aber schreibt über seine Sommerferienpläne: „Ich werde weinen. Ich werde traurig.“ Und in fünf Jahren: „Ich werde einen guten Freund haben.“

Er ist ein lieber, sanftmütiger Junge, der gern lacht und an alle Kekse verteilt, und sich leicht von den typischen Teenager-Hänseleien der anderen kränken lässt. Ein Junge, wie es ihn wahrscheinlich in jeder Klasse jeder Schule überall gibt, mit ganz normalen Sorgen und Problemen.

Aber zu wem kann er damit gehen? Seine Eltern sind, wie die der meisten Schüler, „nicht da“, mein Lieblingseuphemismus. Können ein Heimbetreuer, ein Lehrer, ein Haufen aus aller Herren Länder zusammengewürfelter Klassenkameraden und Mitbewohner auch nur annähernd genug Stabilität bieten, damit man die Pubertät übersteht, geschweige denn mit dem fertig wird, was man während und vor der Flucht durchmachen musste?

Oder, in (hoffentlich korrektem) Latein gefragt: Amati sunt? Wer liebt diese Kinder eigentlich?

25 April 2016

Starved for Stories


Am Wochenende war Tag des Buches. (Für mich persönlich war eher Tag der Schwerkraft mit unliebsamen Folgen, aber wenigstens sind keine Bücher runtergefallen, und alle Familienmitglieder haben sich mittlerweile halbwegs von diversen Stürzen erholt.) Jedenfalls hat unsere örtliche Buchhandlung das zum Anlass genommen, die Kinder der Ü-Klasse einzuladen und ihnen ein Buch zu schenken. Netterweise am Montag, wo ich sowieso immer in die Schule komme, drum durfte ich mit.

Wenn man sich jetzt einen Haufen 16- bis 18jähriger Hauptschüler (nichts anderes sind Schüler der Mittelschule ja) in einer kleinen Buchhandlung vorstellt, erwartet man ein bisschen sowas wie eine Gruppe Grillfans im Veganerladen. Milde Langeweile bis aktives Desinteresse, noch verstärkt durch die Tatsache, dass alle Bücher in einer den Schülern fremden Sprache, also noch weniger zugänglich sind. So das Vorurteil. Doch weit gefehlt. Die Kids fielen geradezu über die Bücher her. Alles von Kochbüchern über Sportbücher bis zu Liebesromanen schien sie zu interessieren. Sogar diverse Kinderbücher wurden aufmerksamst studiert, während die Buchhändlerin erklärte, wo die kleinen Bücher eigentlich herkommen. „Zuerst denkt ein Mensch“, beschrieb einer der Jungs auf ihre Frage hin den Ursprung eines Buches. Zwar gibt es genug Werke, die beweisen, dass man sich das mit dem Denken auch sparen kann, aber prinzipiell finde ich es toll, dass er zuerst an den Autoren gedacht hat, und nicht (wie ich Banausin) an Papierherstellung oder Buchbinderei.

Zum Schluss gab’s ein Geschenk für alle. Einige wirkten fast enttäuscht, dass sie sich nicht selbst eines aussuchen durften. Und tatsächlich wirkte die Geschichte des 11jährigen deutschen Beinahe-Teenies, dessen größtes Problem es war, dass er den ganzen Sommerurlaub mit seinen Eltern in Amerika verbringen musste, und das auch noch an einem Ort ohne Internet, auf mich nicht gerade wie Stoff, mit dem sich meine Flüchtlingskinder identifizieren können würden.

Aber schon wieder lag ich falsch. In der anschließenden Stunde begannen wir das Buch gemeinsam zu lesen. Und Mann, haben die sich da reingestürzt. Selbst die, die noch wirklich wenig Deutsch können, kämpften sich tapfer Absatz für Absatz weiter. Wenn derjenige, der mit Vorlesen dran war, ins Stocken geriet, halfen drei oder vier andere aus. Bei manchen konnte man sehen, wie sie selbständig weiterlasen, obwohl wir noch nicht so weit waren. Nachdem ich die Stunde bereits um 10 Minuten überzogen hatte, konnte ich eins der Mädchen nur dazu bewegen, zurück ins Klassenzimmer zu gehen, indem ich noch schnell einen weiteren Absatz mit ihr las.

Und ist am Anfang des Buches nicht mal irgendwas Spannendes passiert. Was zweierlei beweist. Erstens: Selbst nach einem halben Jahr mit meinen Flüchtlingen stecke ich voller Vorurteile. Die ich wohl besser immer wieder bewusst überprüfen sollte. Und zweitens: Der Mensch braucht Geschichten. Vielleicht nicht so dringend wie Nahrung oder Luft zum Atmen oder Sicherheit. Aber fast.

Und ich freu mich tierisch aufs Weiterlesen mit den Kids.

18 Februar 2016

Seesterne werfen

Diese Woche hatte das Helfen ein bisschen was von der Dramatik, die man sich von Ferne vielleicht vorstellt. Wie ihr ja hier schon lesen konntet, verläuft mein bisschen Unterricht bisher eher unspektakulär. Mit den Kindern über ihre persönlichen Schicksale zu sprechen, ist uns untersagt, alle für unbegleitete Minderjährige kritischen Themen wie Familie sollen wir tunlichst vermeiden. Und ohnehin ist die Kommunikation nicht leicht, weil ich meistens die kriege, die die meiste Unterstützung brauchen, sprich noch nicht wirklich kommunizieren können.

Aber Tränen sind eine universelle Sprache. Völlig unvermittelt begann eine meiner Somalierinnen zu weinen, als wir gerade das Adjektiv „klug“ steigerten. Ich denke nicht, dass das der Auslöser war. Allerdings könnte ich es nicht genau sagen, denn siehe oben: Unter normalen Umständen können wir uns über halbwegs konkrete Dinge mit viel Händen und Füßen einigermaßen verständigen. Unter Tränen und emotionalem Stress über so abstrakte Dinge wie Gefühle und Ängste? Nahezu unmöglich. Immerhin war ihre Landsmännin (Landsfrau?), die zukünftige Krankenschwester, anwesend und dolmetschte ein wenig. Der Betreuer in ihrer Unterkunft ist „nicht gut“. Was immer das heißen mag. „Mama und Papa sind nicht hier.“ Immer wieder deutete sie auf ihren Kopf, dort liege das Problem. Verständlich, dass sie nach allem, was sie erlebt haben muss, psychische Probleme hat. Aber finde mal einen auf traumatisierte Jugendliche spezialisierten Psychiater, der kurzfristig einen Termin frei hat – und Somali spricht!

Die Vorstellung, es endlich in ein sicheres Land zu schaffen, und dann in einer Blase der Einsamkeit gefangen zu sein, mangels Sprachkenntnis dazu verurteilt, über das zu schweigen, was einen innerlich auffrisst, ist kommt meiner Idee einer kafkaesken Hölle schon ziemlich nahe.

Was also tun? Weiter Adjektive steigern kommt erstmal nicht in Frage. Ich würde das Mädchen gern in den Arm nehmen, aber ich bin mir nicht sicher, inwieweit Körperlichkeiten für sie (kulturell und anderweitig) akzeptabel sind, also lege ich ihr nur tröstend die Hand auf den Arm und versuche, meine eigenen Tränen herunterzuschlucken. Sage ihr, dass ich gern helfen möchte, aber nicht weiß, wie. Ihre Mitschülerin erklärt, dass sie nachts im Dunkeln Angst hat – wobei ihr Gesichtsausdruck, mit dem sie Angst pantomimisch darstellt, eigentlich nur mit „nackter Terror“ beschrieben werden kann – aber kein Licht anmachen darf, weil die anderen sonst nicht schlafen können. Ich verspreche, ihr das nächste Mal eine LED-Kerze für unter die Bettdecke mitzubringen. Immer noch laufen ihr die Tränen übers Gesicht, und sie gibt dabei kein einziges Geräusch von sich. Nichtmal ihre Schultern zucken. Irgendwo habe ich kürzlich gelesen, dass Flüchtlingskinder gelernt haben, sich unsichtbar zu machen und nicht aufzufallen, und sich erst wieder daran gewöhnen müssen, dass sie es einfordern dürfen, wahrgenommen zu werden. Den Kontext, die Gründe, warum dieses Unsichtbarwerden nötig war, will ich mir erst gar nicht vorstellen.

Ich rede gegen meine eigene Hilflosigkeit an. Finde eine sehr wichtige Anwendung für Adjektiv-Steigerungen, konkret den Superlativ von mutig: „Ihr seid die mutigsten Menschen, die ich kenne. Ihr habt Dinge erlebt, die ich mir nicht mal vorstellen kann, und habt es hierher geschafft. Ihr seid Helden.“

„Was ist mutig?“, fragt die Mitschülerin der Weinenden. „Was ist Held?“ Mit Pantomime komme ich hier nicht weit. „Mutig ist, wenn man keine Angst hat. Und ein Held …“ Ich überlege, ob ich Beispiele wie Superman anbringen soll. Aber das ist das falsche Bild. Mir fällt ein Zitat aus einem Online-Comic ein: 'I am a superhero because I have superpowers. They are superheros because they do not.'  „Ein Held ist man, wenn man Angst vor etwas hat, es aber trotzdem tut“, versuche ich zu erklären.

Viel mehr kann ich nicht für sie tun. Oder? Oder? Wenn ich mich einmische, überschreite ich die Grenzen meines ‚Reviers‘ als freiwilliger Helfer. Hier müssen eindeutig die Profis ran. Oder? Meine Lehrerin schaut mich fragend an, als ich ihr ihre noch nicht wieder ganz gefasste Schülerin zurückbringe. Ich erkläre ihr, was passiert ist, und spreche die „nicht gute“ Betreuungssituation im Heim an. Die ist ihr wohl bekannt, aber mehr sagt sie nicht dazu. Als ich versuche, mit ihre zu besprechen, wie man dem Mädchen helfen könnte, kündigt sie mir statt dessen an, als nächstes hätte sie eine anspruchsvolle Aufgabe für mich.

Als nächstes? Eigentlich fand ich das gerade schon mehr als anspruchsvoll. Insofern ist es quasi Erholung, mit den Jungs aus Afghanistan Landeskunde zu üben und ihnen Angelina Merkel (Bilder in meinem Kopf!!!) und den Unterschied zwischen Mindestwahlalter und kommunalen Wahlperioden (nein, wir wählen den Stadtrat nicht nur alle 18 Jahre neu, auch wenn es sich so anfühlt) näherzubringen. Wir haben unseren Spaß.

Trotzdem lässt mich die Szene von vorhin nicht los. Die Unterkunft der Mädchen liegt im Nachbarort, d.h. unser Rathaus – das auf mich einen extrem engagierten und hilfsbereiten Eindruck macht – ist nicht zuständig, ebensowenig der Helferkreis, den ich kenne. Wenn ich jetzt also in der Nachbargemeinde anrufe und nachfrage, ist das, wie man auf gut bayrisch sagt, nicht furchtbar gschaftlhuberisch (Hochdeutsche Annährung: wichtigtuerisch)? So richtig geht’s mich ja nichts an, und viel kann ich ohnehin nicht an ihrer Situation ändern. Oder?

Ich muss an ein anderes Kind denken, das ich vor knapp 2 Jahren kennenlernte (außerhalb meines eigenen sozialen Umfelds, also garantiert niemand, den ihr kennt). Ich hatte den Verdacht, dass es misshandelt wurde, und schaltete das Jugendamt ein. Und dachte, ich hätte damit meine Schuldigkeit getan. Doch das Kind sah von Woche zu Woche schlimmer aus und es schien nichts zu passieren. Aber die Zuständigen wussten schließlich Bescheid. Der Rest war nicht meine Sache. Oder? Mehr als anrufen konnte ich doch schlecht tun. Oder? So dachte ich. Bis ich es nicht mehr aushielt und in einem Anfall von wütendem Aktionismus die Polizei einschaltete, mehreren Jugendamtsmitarbeitern auf den AB sprach und eine sehr emotionale E-mail schickte. Dann erst wurde dem Kind endlich, endlich geholfen.

Die Moral von der Geschichte? Es mag nicht in meine Zuständigkeit fallen. Es mag sein, dass ich nicht viel erreichen kann. Es könnte sein, dass ich mich wichtigmachen muss, was mir tendenziell unangenehm ist. Und ja, mir ist klar, ich kann nicht die ganze Welt retten. Aber manchmal lohnt es sich, ein kleines bisschen mehr zu tun als nur das Nötigste. Auch für eine einzelne Person. Oder vielleicht gerade für eine Einzelne. Schon allein wegen der Geschichte mit den Seesternen.

05 Februar 2016

Seinen Namen für die Integration hergeben

Nach einer Woche Pause war ich diese Woche wieder an meiner Schule. Dort gibt es jetzt drei statt bisher zwei Ü-Klassen, und die Einteilung erfolgt nicht mehr nach Alter, sondern nach Kenntnissen der Schüler. Meine ABC-Schützen werden jetzt also gezielt den ganzen Vormittag alphabetisiert, und müssen nicht mehr mühsam mit dem Unterricht der Lesenden mithalten. Das bedeutet für mich, dass sich meine Aufgaben ändern. Wie genau, ist noch nicht so ganz raus. Diese Woche habe ich mit zwei Somalierinnen gearbeitet, die schon ganz gut lesen und schreiben können und voll motiviert sind.

Das Thema lautete „beim Arzt“, und die erste meiner Schülerinnen erzählte mir gleich begeistert, dass sie Krankenschwester werden will. Kurz musste ich gegen die Versuchung kämpfen, ihr statt grundlegender Gesundheitsvokabeln etwas über Gewerkschaften, schlechte Bezahlung und Arbeitskampf zu erzählen. Dann haben wir uns aber doch auf die Silbentrennung konzentriert. Silbentrennung? Braucht man das heute noch? Ich jedenfalls nicht, nichtmal im Ansatz, obwohl Worte mein Beruf sind. Prompt ließ mich mein Schulwissen im Stich. ST tut es mittlerweile nicht mehr weh, getrennt zu werden, soviel wusste ich noch. Aber heißt es Ta-blet-te oder Tab-le-tte? Und nochmal: Ist das wichtig? Macht nix, wir arbeiten uns 45 Minuten lang durch die Wörter und haben unseren Spaß.

Mit der zweiten Schülerin, einer zukünftigen IT-Spezialistin, darf ich das machen, was ich am besten kann: ein Rollenspiel. Ich bin der Arzt, sie die Patientin, die mir in ganzen Sätzen ihre Beschwerden schildern soll. Sie lacht viel, während mir Zahnweh vorspielt, sich von mir mit dem Bohrer traktieren lässt und schließlich in der Apotheke mit meinem Rezept noch ein Schmerzmittel abholt. Ein paar Wörter zeige ich ihr mithilfe meines Bildwörterbuchs (ich mache hier schamlos Werbung, weil der Verlag es mir netterweise umsonst zugeschickt hat und ich es wirklich hilfreich finde). Als sie dort das Bild einer Spritze entdeckt, deutet sie einigermaßen entsetzt darauf und erzählt, dass sie in Deutschland lange im Krankenhaus war, weil sie Herzprobleme hatte. Sie zeigt mir, wo überall Nadeln in sie reingesteckt wurden. Auf dem Handrücken hat sie eine große Narbe. Sowas kommt nicht von einer Infusion, es sieht eher aus wie eine Brandnarbe oder Verätzung. Ich muss schlucken, kann aber nicht weiter darüber nachdenken, weil sie weitererzählt: Wenn sie jetzt krank wird, sagt sie es ihrem Betreuer nicht, weil sie nicht mehr zum Arzt will. Hier ist viel mehr nötig als Vokabeln. Aber um verlorenes Vertrauen wiederzuherstellen, kann man in 45 Minuten nicht viel tun. Wieder bin ich ein verschwindend kleiner Tropfen auf einen viel zu heißen Stein.

Immerhin bin ich jetzt nicht mehr eine von zwei Helferinnen, sondern eine unter vielen. Letzte Woche gab es ein großes Treffen der verschiedenen Helferkreise hier im Ort, die beschlossen haben zu fusionieren, oder sich zumindest besser zu koordinieren. Bürgermeister, Landratsamt und Lokalpresse sind ebenfalls anwesend und versorgen uns mit Infos. Es scheint, dass unsere Kommunalbehörden ihre Hausaufgaben gemacht haben. Genug Wohnraum ist vorhanden, zusätzlicher wird im Eiltempo (und energieneutraler Holzbauweise) gebaut, im Rathaus wurden neue Stellen geschaffen bzw. umdefiniert, und es gibt eine überregionale Koordination sowohl für die offiziell zuständigen Behörden als auch für die freiwilligen Helferkreise. Auf dem Treffen konnten sich letztere besser strukturieren und Arbeitsgruppen mit festen Zuständigkeiten bilden. Sehr deutsch, ein bisschen McKinsey (= mein Schmähwort für zu viel PowerPoint-Speak) und irgendwie trotzdem immens motivierend. Hab mich hinreißen lassen, meine Mitarbeit an der Helferkreis-Webseite anzubieten. Aber Texte schreiben kann ich ja immer irgendwie zwischenreinquetschen, und alles, was veröffentlicht wird, kann ich zudem auch als Referenz für meine Übersetzertätigkeit verwenden.

Die Schule hat das Treffen genutzt, um weitere Helfer für den Sprachunterricht anzuwerben. Dafür haben sich erstaunlich viele ausländische Studenten gemeldet, was ich aber sehr sinnvoll finde, denn die sind mit den Hürden des Deutschlernens und der Theorie der Grammatik sicherlich viel vertrauter als wir Muttersprachler. Und vielleicht kann man sich auch mal zusammentun und mit den Kids abseits des Unterrichts gemeinsam was machen.

Halse ich mir gerade zu viel Arbeit auf? Gut möglich. Aber obwohl das Ergebnis meiner Arbeit sehr unspektakulär bis unsichtbar ist, fühlt es sich so an, als würde ich (abgesehen von meiner Arbeit als Mutter) endlich mal etwas wirklich Sinnvolles und Wichtiges tun. Da reicht es völlig, wenn meine stets missgelaunte Nigerianerin sich nach dem Unterricht mit einem lapidaren „Today gut!“ von mir verabschiedet, und ich habe den ganzen Tag gute Laune.

Bin ich zu anspruchslos? Ich glaube, Menschen gegenüber, die alles Vertraute aufgegeben oder verloren haben, sollte man mit Ansprüchen eher zurückhaltend sein. Das Leben verlangt ihnen so viel mehr ab, als wir, die wir in Frieden und Wohlstand aufgewachsen sind, es jemals ermessen können. Sie müssen sich so anstrengen, um einen Bruchteil von dem zu erreichen, was für uns selbstverständlich ist.

Als meine angehende Krankenschwester mir ihren Namen sagt, schreibt sie ihn mir zur Sicherheit gleich auf. Sie ist es gewohnt, falsch ausgesprochen zu werden. Eigentlich, sagt sie, beginnt ihr Name nicht mit Ka, so wie sie es geschrieben hat, sondern mit Kha, was wie ein kehliges Cha ausgesprochen wird. „Aber das kann hier keiner sagen, also habe ich meinen Namen geändert“, lächelt sie. Einfach so. Keine große Sache, oder?. Jugendlich verpassen sich selbst und anderen doch sowieso andauernd irgendwelche Spitznamen, die mit ihren eigenen Namen nicht viel zu tun haben. Teil der Abkapselung vom Elternhaus und Identitätsfindung. Was aber, wenn der eigene Name eines der wenigen Dinge ist, die einen mit seiner Herkunft verbinden? Müsste man sich, allein* in einer völlig fremden Gesellschaft, nicht mit aller Macht wenigstens daran festhalten? Und da sitzt dieses junge Mädchen und gibt fröhlich auch diesen Teil ihrer Identität auf, um es uns einfacher zu machen, sie zu integrieren. Ich verlasse den Unterricht mit dem Vorsatz, mir möglichst schnell in allen relevanten Sprachen den Satz „Du bist ein Held“ anzueignen.


*Meine Schüler sind alle unbegleitet, d.h. ihre Familie ist noch im Heimatland… oder gar nicht mehr da.